Bionik zum Anfassen: Bei der Entwicklung einer neuen, formadaptiven Pinzette stand die Natur Pate. Die Greifer passen sich sanft der Oberfläche an, verteilen den Druck gleichmäßig und sorgen dafür, dass Oberflächen nicht beschädigt werden. Ein ideales Werkzeug für die biologische Forschung und Chirurgie.
»Die klassische Pinzette übt den größten Druck immer an der Spitze aus. Das ist für Biologen und Mediziner oft ein Problem: Wenn sie mit empfindlichem Gewebe hantieren, kann der Zellverband durch den hohen Druck beschädigt werden«, erklärt Dr. Oliver Schwarz vom Fraunhofer IPA. Zusammen mit seinem Team hat der Biotechniker eine »formadaptive Pinzette« entwickelt, die den Druck reduziert.
Die Inspiration für das neue Werkzeug lieferten Fische, genaugenommen deren Schwanzflossen. Diese enthalten strahlenförmige Strukturen, die durch querverlaufendes, elastisches Bindegewebe verbunden sind. Der Aufbau sorgt dafür, dass sich die Strahlen dem Wasserdruck entgegenbiegen und den Vortrieb des Fisches beschleunigen.
Diesen Fin-Ray-Effekt, der 1997 entdeckt wurde, nutzen die IPA-Forscher für die Entwicklung medizinischer Geräte. »Unsere bionische Pinzette besteht – wie der Fischschwanz – aus Längs- und Querverstrebungen, die elastisch miteinander verbunden und so angeordnet sind, dass sie auf Druck reagieren und diesem entgegenwirken«, sagt Schwarz.
Der Druck dafür muss nicht groß sein: Vorsichtig greift der Forscher mit seiner Pinzette nach einem Strohhalm, der auf dem Tisch liegt. Die beiden Greifarme, die eben noch kerzengerade waren, passen sich sofort der Oberfläche des Halmes an. »Dieses formadaptive Verhalten sorgt dafür, dass der Druck nicht mehr an einem Punkt konzentriert auftritt, sondern sich auf die gesamte Auflagefläche verteilt«, erläutert der Forscher, während er den Strohhalm mit der Pinzette vom Tisch aufhebt. Der Halm verbiegt sich dabei nur leicht zu einem Oval, wird aber nicht gequetscht.
Das Geheimnis steckt im Design. In monatelanger Tüftelarbeit haben die Forscher am Computer unterschiedliche Modelle entwickelt. »Unser Ziel war es, die Pinzette so zu gestalten, dass sie gut in der Hand liegt, die gewünschte Adaption an die Oberfläche garantiert und dass sie sich sowohl kostengünstig als auch nachhaltig produzieren lässt«, berichtet Schwarz.
Das erfolgversprechendste Modell – es besteht aus Polyamid, einem Kunststoff, der aus Rizinusöl gewonnen wird und medizintechnisch zugelassen ist – kann mit 3D-Drucktechnik oder im Spritzgussverfahren gefertigt werden. Die ersten Prototypen befinden sich in der Chirurgie bereits im Praxistest.
Die Medizin ist dabei nur eines von vielen Anwendungsfeldern: Die neuen formadaptiven Pinzetten lassen sich überall nutzen, wo kleine empfindliche Teile fixiert oder transportiert werden müssen: In der biologischen Forschung genauso wie in der Produktion elektronischer Bauelemente.