In Zusammenarbeit mit Medicalsyn, einer Ausgründung aus der Technischen Universität Dresden, und Carus Consilium Sachsen entwickelt die Forschungsgruppe Kognitive Neurophysiologie der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und ‑psychotherapie des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus Dresden ein neues Verfahren zur neuropsychologischen Leistungsdiagnostik. Im Mittelpunkt stehen kognitive Dysfunktionen, wie die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) bei Kindern und Jugendlichen. Um hier eine verlässliche Diagnose erstellen zu können, ist es wichtig, die dazu notwendigen Tests in Umgebungen stattfinden zu lassen, die den Alltagsanforderungen der Patientinnen und Patienten entsprechen. Dies ist bisher nicht im optimalen Maß möglich, da die Befunde in der Regel in einem alltagsfernen Setting erhoben werden. Von dem jetzt entwickelten Ansatz, dafür eine „virtual-reality“-Umgebung zu nutzen, erwarten sich die Expertinnen und Experten eine zielgenauere und realistischere Diagnostik. Nach der knapp zweijährigen Entwicklung der Software starten nun die ersten Praxistests. Dies markiert das Ende der gut zweijährigen mit 620.000 Euro dotierten EFRE-Förderung.
„Bisher haben wir zur ADHS-Diagnostik vor allem Fragebögen, Papier-Bleistift Tests und einfachere Reaktionszeitaufgaben am Computer genutzt. Auch wenn diese Methoden sehr ausgeklügelt und die Genauigkeit der Ergebnisse wissenschaftlich überprüft worden ist, stießen wir mit den damit erhobenen Diagnosen und deren Relevanz für den Alltag der Betroffenen häufiger an Grenzen“, sagt Prof. Christian Beste. Der Leiter der Forschungsgruppe Kognitive Neurophysiologie der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und ‑psychotherapie sowie Direktor des Universitäts Neuropsychologie Centrums (UNC) bekommt im Nachgang dieser Tests immer wieder die Rückmeldung, dass die Kinder und Jugendlichen beim Ausfüllen der Fragebögen in der Klinik deutlich konzentrierter und leistungsfähiger erscheinen als im Alltag selbst. Um künftig validere Vorhersagen über die Leistungsfähigkeit zu bekommen, gilt es deshalb, diese Diskrepanz in der Diagnostik aufzuheben. Dies ist insbesondere bei Fragen relevant in denen es um die kognitive Leistungsfähigkeit von Patientinnen und Patienten geht. Deshalb entwickelte das Team um Prof. Beste die Idee, die ADHS-Diagnostik in Umgebungen zu verlagern, die den Alltagsanforderungen stärker ähneln als das Ausfüllen von Fragebögen in der Ambulanz. Mit diesem Ansatz betreten die Forschenden Neuland und übernehmen eine Vorreiterrolle in der Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Virtuelles Klassenzimmer als alltägliche Umgebung für verlässliche Diagnostik
Um ein für die Fachkolleginnen und ‑kollegen praktikables Diagnostikinstrument zu entwickeln, das Alltagssituationen und ‑umgebungen einbezieht, entschied sich die Forschungsgruppe Kognitive Neurophysiologie für eine „virtual reality“ (VR)-Anwendung. Eine entsprechend ausgestaltete und programmierte Umgebung – im ersten Schritt handelt es sich um ein Klassenzimmer – versetzt die Kinder und Jugendlichen in eine Situation, in denen die mit der Erkrankung verbundenen Defizite und Symptome deutlicher erkennbar werden. Mit diesem Ansatz bewarben sich die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie gemeinsam mit Medicalsyn und Carus Consilium Sachsen um Fördergelder der EU. Das Innovationsprojekt „Entwicklung einer virtuellen Realität (VR)-Umgebung zur personalisierten Diagnostik und Therapie kognitiver Funktionen“ soll in unterschiedlichen Bereichen dazu dienen, unter anderem Aufmerksamkeits- und Gedächtnisfunktionen oder planerisches Denken zu testen und perspektivisch in Trainings die Defizite zu reduzieren. In beiden Bereichen – also Diagnostik und Therapie – sollen individuelle Anforderungsbereiche des Betroffenen, beispielsweise in Schule oder Beruf, stärker berücksichtigt und damit personalisiert – also besser auf den Patienten zugeschnitten – werden.
„Mit dieser Individualisierung der Testsituation erreichen wir eine höhere Verlässlichkeit“, sagt Dr. Olaf Müller, Geschäftsführer CCS. Das hilft den behandelnden Therapeutinnen und Therapeuten des medizinischen und psychologischen Bereichs genau wie den Betroffenen. „Das Potential der entwickelten Systematik liegt darin, dass es einfach auf andere Altersgruppen und Patientenpopulationen übertragen werden kann, dafür bietet auch das UNC die passende klinisch-wissenschaftliche Struktur“, sagt Prof. Christian Beste. „Innovative Versorgungsprojekte wie dieses leisten einen wichtigen Beitrag für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung, wovon vor allem die Menschen im ländlichen Raum profitieren. Die Hochschulmedizin ist sich ihrer Verantwortung diesbezüglich bewusst und hat bereits in vielen Bereichen Akzente gesetzt, um diesen Menschen ebenfalls eine exzellente Versorgung, Präventionsangebote und Diagnostik anbieten zu können“, sagt Prof. Michael Albrecht, Medizinischer Vorstand am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden.
Diagnostik kognitiver Dysfunktionen auch bei Erwachsenen relevant
Bei einer Vielzahl neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen können Störungen der Aufmerksamkeit oder auch Beeinträchtigungen des Gedächtnisses auftreten, die auch im Alterungsprozess eine Rolle spielen. Deshalb ist es auch bei Erwachsenen wichtig, diese Defizite zu diagnostizieren, um entsprechende Behandlungen einleiten zu können. Schwerpunkte sind hier beispielsweise neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson oder Multiple Sklerose. Auch nach Schlaganfällen bedarf es einer präzisen, am Alltag orientierten Diagnostik, um entsprechende Therapien einzuleiten und besser auf die Bedürfnisse der Betroffenen abzustimmen.
Nach einer ersten Testphase, in der es jetzt vor allem um die Funktion und Praktikabilität der VR-basierten Diagnostik geht, folgen zu einem späteren Zeitpunkt wissenschaftliche Studien, mit denen die Präzision des neuen Verfahrens evaluiert wird.